Joachim Ringelnatz
Über kaum einen Künstler dieses Jahrhunderts ist soviel Unsinniges und Entstellendes verbreitet worden wie über Joachim Ringelnatz. Das war zu seinen Lebzeiten so, und so blieb es nach seinem Tode. Dabei war gerade er original, ohne es sein zu wollen: Persönlichkeit in jedem Augenblick. Ringelnatz stellt selber in seinen Erinnerungen „Mein Leben bis zum Kriege“ fest:
„Meine lange Nase und mein zackiges Profil reizten zur Karikatur. Aber mir scheint, dass die meisten Maler über der Karikatur das Porträt vergaßen.“
Wer ist Ringelnatz?
Ist er der Bänkelsänger im Matrosenanzug mit dem Weinglas in der zitternden Hand? Ja und nein. Das ist er und doch ist er anderes und mehr.
Er war ein Vagabund auf dem Ozean des Lebens, doch der Spießbürgerschreck hatte bis zum Ende seiner irdischen Tage seine hellen Kinderaugen, mit denen er aus einem nicht endenden Staunen über diese Welt auf die Menschen und Dinge schaute und hinter sie. Sein Erlebnisdurst war unermesslich, dem Umgetriebenen aber blieb eine unversehrte, unversehrbare Unschuld. Durch sie besaß er eine seltene Wahrhaftigkeit, sich und der Umwelt gegenüber. In Ringelnatz schlug ein Herz, das die Welt kannte, sie liebte, sie erlitt und stark genug war, die Liebe zu mehren und das Leid zu lindern. Ein Leben ist nicht ein Ablauf einschneidender Handlungen. Wichtiger als große Ereignisse sind oft kleinste Umstände. Deshalb ist auch und gerade bei Ringelnatz das Unscheinbare oft am charakteristischsten: eine Gepflogenheit, eine Geste, eine Reaktion. Das Detail ist am interessantesten und sagt am meisten.
Das Werk
Wer ohne Vorurteil an ihn herangeht, findet einen sprachschöpferischen, oft missverstandenen Jahrhundert-Lyriker mit einer weiten, glücklichen Entwicklung in der spielerischen Heiterkeit seiner Humore wie im zarten Ernst seiner weltfrommen Verse; einen fast unbekannten, scharf beobachtenden Erzähler; einen Klassiker des literarischen Kabaretts, einen Schauspieler von magischen Fähigkeiten; einen halb anerkannten, halb belächelten Maler und Zeichner, der phantasievoll innere Welten ins Sichtbare zaubert. Sein vielseitiges Schaffen drängt sich in nicht viel mehr als zwei Jahrzehnte zusammen. Man kann es nicht gleichzeitig behandeln, sondern muss es, im Zusammenhang, einzeln würdigen.
(aus H. Günther; rororo monographien; 1964)
Text
Ringelnatz schreibt wie…? Ringelnatz! Er hat in seinen Texten zu einer Ausdrucksform gefunden die ohne Beispiel ist. Geringste Anlässe – Ameisen, ein Stück Seife, selbst Staub – waren für ihn Inspiration zum Schreiben. Aus diesem Kosmos des Unscheinbaren strahlt immer und immer wieder die reine Unvernunft und wirbelt den Leser zwischen dezent vorgetragener Tragik und teilweise derben Humoresken hin und her.
Seine Hinwendung an die von ihm stets respektvoll betrachteten Kleinigkeiten diente ihm vor allem dazu, „große“ Zusammenhänge zu entzaubern.
Auch wurde in seinen Gedichten oft die Sprache selbst eines dieser „kleinen“ Dinge, die seine galoppierende Fantasie zu skurrilen Wortneuschöpfungen anspornte. Wortneuschöpfungen, welche zu einer neuen Betrachtung der Welt herausfordern…
Diese Vielschichtigkeit zwingt zum Weiterlesen, zum Weiterdenken…
Töne
… zum Vortragen und Musizieren. Angespornt von Ringelnatz‘ faszinierenden Sprachwelten haben wir eine Musik geschaffen, die tiefer liegende Schichten, jenseits des gesprochenen Wortes, freilegt und hörbar macht. Die musikalischen Ausdrucksmittel akzentuieren die Vielfalt der Ideen des Dichters. Umfangen von dieser faszinierenden Musik werden die Worte, Gedanken und Gleichnisse intensiver erfahrbar, fühlbar. Der Zuhörer kann in den Kosmos des Joachim Ringelnatz eintauchen, kann seine eigene Welt aus des Dichters Innenwelt betrachten. So wird der Titel des Programmes zum Konzept …
„Reich durch Ringelnatz“
Die Kraft, Inspiration und visionäre Gedankentiefe der Texte des Poeten Joachim Ringelnatz bleibt immer im Vordergrund und wichtigster Teil des Vortrages. Die Geschichten und Gedichte, immer noch von großer Aktualität, werden in einer theatralen Gesamtinszenierung aus Vortrag, Musik und Licht dargeboten.
Auf dieser poetischen Bühnenreise erlebt das Publikum Ringelnatz als Matrosen, sein Alter Ego, den rauen Seemann Kuttel Daddeldu und wie Ringelnatz die Menschen sah und erhalten einen Eindruck von Ringelnatz‘ Blick auf sich selbst.